Ein Märchen wird erwachsen – Leonie Sontheimer

Ein Märchen wird erwach­sen – Leonie Sontheimer
Vor vier­zig Jahren schrieb Micha­el Ende eine Geschich­te, welche die krisen­haf­te Situa­ti­on unse­rer heuti­gen Wachs­tums­ge­sell­schaft erschre­ckend präzi­se wieder­gibt. „MOMO“ ist mehr als ein Märchen über die Zeit. Wir können die Geschich­te auch als meta­pho­ri­sche Erzäh­lung über das herr­schen­de Finanz­sys­tem verste­hen. Ein Film­team möchte die kleine Heldin und ihre beson­de­ren Fähig­kei­ten in Erin­ne­rung rufen und Gedan­ken über zukunfts­fä­hi­ge Geld­sys­te­me erwecken.

„Es gibt ein großes und doch ganz alltäg­li­ches Geheim­nis. Alle Menschen haben daran Teil, alle kennen es, aber die wenigs­ten denken je darüber nach. Die meis­ten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein biss­chen darüber. Dieses Geheim­nis ist die Zeit.“ Dies schrieb Michael
Ende vor vier­zig Jahren in seinem Märchen „MOMO“, welches er keines­wegs nur für Kinder verfass­te. Ganz im Gegen­teil – zwischen den Zeilen und in der Tiefe der Erzäh­lung ist MOMO eine Para­bel über Geld­sys­te­me, ihre Konstruk­ti­on und deren Auswir­kun­gen auf die mensch­li­che Gemeinschaft.

Micha­el Ende hat sich über Jahr­zehn­te hinweg inten­siv mit Finanz­sys­te­men beschäf­tigt, MOMO ist als ein Resul­tat dieser Über­le­gun­gen zu betrach­ten; ein Märchen, das mit erns­ten Hinter­grund­ge­dan­ken geschrie­ben wurde. Mit seiner fabel­haf­ten Erzäh­lung gelingt es dem Schrift­stel­ler, die Geld­pro­ble­ma­tik auf einer ganz neuen Ebene offen zu legen. Während Zahlen und Kurven aus den Wirtschaftswissenschaften
nur ratio­nal begreif­bar sind, spricht uns MOMO auf der Ebene der Gefüh­le an.

Als die Filme­ma­che­rIn­nen Hanni Welter, Masayo Oda und Oliver Sachs ihren Kurz­film „40 Jahre MOMO – ein Märchen wird erwach­sen“ vor Publi­kum gezeigt haben, erleb­ten sie in vielen Gesprä­chen nach den Vorfüh­run­gen wieder­holt: Momo öffnet die Herzen. Doch ist es nicht nur diese emotio­na­le Verbin­dung, die MOMO bis heute zu einem der belieb­tes­ten Bücher der Welt macht. Dem in vier­zig Spra­chen erschie­ne­nen Roman
liegt offen­sicht­lich auch eine prophe­ti­sche Kraft inne, denn viele Details der Erzäh­lung schei­nen aus unse­rer heuti­gen gesell­schaft­li­chen Reali­tät zu erzählen.

Momo lebt in der Ruine eines Amphi­thea­ters in einer klei­nen verschla­fe­nen Ortschaft. Die Menschen dieser Ortschaft gera­ten jedoch schlei­chend unter den Einfluss von namen­lo­sen Agen­ten einer Zeit­spar­kas­se. Die grauen Herren verströ­men eine beängs­ti­gen­de Kälte, umhül­len sich mit dem farb­lo­sen Rauch ihrer Zigar­ren und treten mit dem immer glei­chen Ange­bot auf: Sie behaup­ten, einge­spar­te und bei ihnen ange­leg­te Zeit nach Jahren mit Zins und Zinses­zins zurück­zu­zah­len und sie bele­gen dies anhand beein­dru­cken­der Zahlen.

Dieses Ange­bot sollte jedem Mitglied der kapi­ta­lis­ti­schen Wachs­tums­ge­sell­schaft allzu bekannt sein. Über­all wird uns heute verspro­chen, unser Geld zu vermeh­ren. Es scheint, als läge in der Anhäu­fung von Geld ein Wert an sich, ein Wert, nach dem viele Menschen mit all ihrer Lebens­kraft stre­ben. Auch in Momos Welt kann kaum jemand dem Ange­bot der grauen Herren wider­ste­hen und das verän­dert die Stim­mung der klei­nen Gemein­schaft in kurzer Zeit sehr stark: Die Menschen begin­nen ihr Leben zu ratio­na­li­sie­ren. Immer mehr Zeit wollen sie einspa­ren, mehr Geld verdie­nen. In Erwar­tung eines besse­ren Lebens nach der Rück­zah­lung ihrer rasch wach­sen­den Rendi­te an Sekun­den, Minu­ten und Stun­den werden die Zeit­spa­rer den grauen Herren immer ähnlicher. 

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