Die Sprache der Blaumeisen – Johannes Heimrath, Lara Mallien

Micha­el Belei­tes hat es gewagt, die kata­stro­pha­len Folgen des Uran­berg­baus in der DDR öffent­lich zu machen: 1988 erschien seine im Unter­grund herge­stell­te Doku­men­ta­ti­on »Pech­blen­de«. Nach der Wende publi­zier­te er über die Zwangs­kol­lek­ti­vie­rung der Bauern in der DDR, deren Folgen sich bis heute fatal auswir­ken. Zehn Jahre lang war er Säch­si­scher Landes­beauftragter für die Stasi-Unter­la­gen. Heute lebt er auf seinem ökolo­gi­schen Gärt­ner­hof in Blan­ken­stein bei Dres­den und forscht zu einer orga­nis­mi­schen Biologie.

„Die hohen Rufe über uns in den Bäumen – das sind die Kern­bei­ßer“, erklärt Micha­el Belei­tes, als er uns am Ende unse­res Rund­gangs den stei­len Talhang des klei­nen Flüss­chens Trie­bisch wieder hoch zu seinem Hof führt. „Sie sind nur kurz auf der Durch­rei­se hier, wenige blei­ben den Sommer über. Weiter oben hört ihr einen Klei­ber – und von dort drüben rufen Zaun­kö­ni­ge und Buchfinken.“

Wir blei­ben stehen und schlie­ßen die Augen. In den Baum­kro­nen über uns entfal­tet sich eine viel­ge­stal­ti­ge akus­ti­sche Land­schaft. Doch das innere Bild wird getrübt: Wie ein Tinni­tus bohrt sich das Surren der Venti­la­to­ren einer »Eier­fa­brik« mit eini­gen tausend Lege­hen­nen vom ande­ren Talhang durch das lufti­ge Vogel­kon­zert. Auch während wir die Felder bestau­nen, auf denen Micha­el Belei­tes und seine Frau Luise Lude­wig in Blan­ken­stein bei Dres­den Blumen, Kräu­ter, Obst und Beeren anbau­en, quält uns das laute Gerat­ter einer weite­ren solchen Anlage. „Dort befül­len sie gerade ein Futter­si­lo“, kommen­tiert Micha­el. „Ein Drit­tel davon wird Gen-Soja sein.“

Mit seinen Nach­bar-Land­wir­ten führt Micha­el einen freund­li­chen Dialog. Schließ­lich hat einer von ihnen einen Hektar Land an ihn abge­ge­ben und dafür auf Subven­tio­nen verzich­tet. „Die Bauern würden vieles gern anders machen, lieber kein Gift aufs Getrei­de sprit­zen und nicht so viele Hühner auf engem Raum halten. Aber der enorme Wett­be­werbs­druck hält sie von neuen Wegen fern.“

In Micha­els Garten sausen die Hühner frei umher. Sie schar­ren nahe bei zwei Buchs­baum­he­cken, wo sie sich vor dem Habicht verste­cken können. Ihre Federn sind aufs Feins­te gezeich­net. „Jede Art hat ihre typi­schen Gestalt­mus­ter“, erklärt Micha­el. Seine Zucht orien­tiert sich an der Wild­form des Geflü­gels. „Ich bin mir sicher, dass weder Kampf noch Wett­be­werb diese Muster hervor­ge­bracht haben. Viele Feder­zeich­nun­gen haben keine Funk­ti­on – Blau­mei­sen über­le­ben nicht deshalb besser, weil sie einen blauen Kopf haben. Die Darwi­nis­ten sagen, es sei der Druck von außen, wie der Habicht, der das Feder­kleid der Hühner bestimmt hat, oder die geschlecht­li­che Ausle­se, aber das glaube ich nicht. Das erklärt weder die Viel­falt noch die Ästhe­tik der Muster.“ Micha­el Belei­tes ist nicht nur Ökoland­wirt, sondern auch Forscher. Soeben ist sein Buch »Umwelt­re­so­nanz« erschie­nen, in dem er seine Erkennt­nis­se zur Evolu­ti­on der Arten­viel­falt darlegt. Dass die Natur sich nicht primär durch Wett­be­werb gestal­tet, ist für ihn die poli­ti­sche Kern­the­se dieser Arbeit: „Wir brau­chen ein posi­ti­ves Bild von Natur. Sonst bleibt auch die mensch­li­che Kultur bei einem Kampf aller gegen alle stehen. “

Reso­nanz der Vogelrufe 

Sein Verständ­nis von »Umwelt­re­so­nanz« grün­det sich nicht allein auf fundier­te Theo­rie. Viel­mehr ist die leben­di­ge Beob­ach­tung der Natur seit seiner Kind­heit Micha­els Leitschnur.

So steigt er auch an dem Tag im Sommer 1978, an dem alle seine Mitschü­ler zur Jugend­wei­he gehen, in die Gummi­stie­fel und stapft in den Wald. Er hört eine Vogel­stim­me, die er nicht iden­ti­fi­zie­ren kann und pirscht so lange durch Dickicht und Sumpf, bis er durchs Fern­glas den Sänger erspäht. Dass er, 1964 als mitt­le­rer von drei Pfar­rers­söh­nen gebo­ren, die Jugend­wei­he nicht mitmacht, wider­spie­gelt die fami­liä­re Situa­ti­on. Micha­el schätzt das unan­ge­pass­te Denken seines Vaters, der sich sogar inner­halb seiner Kirche quer­ge­stellt hatte, indem er die Säug­lings­tau­fe ablehn­te. Taufe habe etwas mit Bekennt­nis zu tun, so seine Über­zeu­gung – und bezahl­te für solches Abweich­ler­tum: „Meinem Vater wurde eine Kirchen­ge­mein­de im Braun­koh­le­re­vier zwischen Zeitz und Weißen­fels zuge­wie­sen, einer von Tage­bau­en und Chemie­fa­bri­ken gepräg­ten Gegend, in der kaum jemand zur Kirche ging“, erzählt Micha­el. „Meine Mutter wollte ihren Kindern in dieser Gegend, in der es so wenig Kultur gab, wenigs­tens die Natur nahe­brin­gen.“ Micha­el ist derje­ni­ge unter den drei Brüdern, bei dem ihre Saat üppig aufgeht.

Das mag der Amsel geschul­det sein, die einst am frühen Morgen das Fens­ter­brett des Zimmers zur Bühne erkor, in dem der Fünf­jäh­ri­ge atem­los ihrem Gesang aus voller Kehle lausch­te. Seit­dem gehört Micha­els Herz den Vögeln. „Von elf Jahren an zog ich mit einem Orni­tho­lo­gen mit, der Zugvö­gel für die Forschung gefan­gen und beringt hat. Die Schule habe ich oft vernach­läs­sigt, mein Lern­ort war der Wald. Heute bin ich für diese Wald­schu­le gren­zen­los dank­bar. An den Vogel­stim­men kann ich nicht nur die Arten iden­ti­fi­zie­ren, sondern auch wahr­neh­men, welche Atmo­sphä­re über der Land­schaft liegt. Es ist das eine, wenn alle entspannt ihr Lied­chen singen, und etwas ande­res, wenn ein Sper­ber am Himmel erscheint. Beson­ders die Blau­mei­sen reagie­ren sofort. Wer ihre Spra­che versteht, weiß, was in der Land­schaft gerade geschieht.“ Wenn er nicht durch den Wald pirscht, hilft Micha­el einer benach­bar­ten Bäue­rin beim Ausmis­ten und Füttern. Seine liebs­ten Hoftie­re sind die Tauben – sie flie­gen, wohin sie wollen, und kommen doch am Abend wieder in den Schlag zurück. Als Zwölf­jäh­ri­ger beginnt Micha­el, eigene Tauben zu züch­ten. In der Schule, nur einen Stein­wurf von seinem Eltern­haus entfernt, schaut er stun­den­lang statt auf die Tafel aus dem Fens­ter und prägt sich ihre Flug­fi­gu­ren ein. „Ich wollte später Biolo­gie studie­ren, das war immer klar. Aber als Pfar­rers­kind wurde ich nicht auf die Ober­schu­le versetzt.“

Lautes Krei­schen aus dem Garten schreckt uns auf. Wir stür­zen zum Fens­ter: Die Glucke führt ihre Küken spazie­ren und ist der Meinung, der freche Gänse­rich solle mehr Abstand halten. Nach kurzem Hick­hack ist der Garten­frie­den schnell wiederhergestellt.
Wir vertie­fen uns in die Geschich­te von den Tauben, die Micha­el von klein auf beglei­ten. Syste­ma­tisch foto­gra­fiert er sie später in jeder Groß­stadt, in der er beruf­lich unter­wegs ist. Diese Tier­art hat Darwin zur Begrün­dung seiner Evolu­ti­ons­theo­rie ange­regt. Micha­el führen sie zu eige­nen Gedan­ken: „An den Tauben wird erkenn­bar, dass sich bei domes­ti­zier­ten Tieren – also denje­ni­gen, die in Gefan­gen­schaft leben oder als Popu­la­ti­on frei­wil­lig und dauer­haft in einem künst­li­chen Habi­tat blei­ben – die Abwei­chung der Färbung anders entwi­ckelt, als es die Mendel­schen Regeln nahe­le­gen: Die Varia­ti­on ›fließt ausein­an­der‹, so dass zuneh­mend verdun­kel­te, rotbrau­ne oder weiß­ge­scheck­te Tiere entste­hen. Die Wild­form hinge­gen bleibt mit ihrer diffe­ren­zier­ten Zeich­nung konti­nu­ier­lich inner­halb einer schma­len Variations­breite. Nach den gängi­gen gene­ti­schen Regeln ist das nicht erklär­bar. Wenn es augen­fäl­lig nicht der Kampf ums Dasein ist, sondern ein inne­rer Zusam­men­hang, der die Gestalt der Wild­tie­re hervor­bringt – wie kann man diesen erklä­ren? Mit Feld-Hypo­the­sen wie denje­ni­gen von Sheld­ra­ke? Der Orni­tho­lo­ge Otto Klein­schmidt hatte bereits die Varia­ti­on als einen ›Strom in festen Gren­zen‹ erkannt. Der Biolo­ge Ernst Mayr nennt es tref­fend ›gene­ti­sche Kohä­si­on‹. Was hat es damit auf sich? Warum wirkt sie nur dann, wenn die Popu­la­ti­on in Frei­heit lebt?“

Umwelt­schutz im Untergrund 

Solche Fragen beschäf­ti­gen Micha­el bereits während seiner Berufs­aus­bil­dung: Ist ihm auch das Biolo­gie­stu­di­um verwehrt, so ergat­tert er doch wenigs­tens einen der knap­pen Ausbil­dungs­plät­ze zum Tier­prä­pa­ra­to­ren am Natur­kun­de­mu­se­um Gera. Stun­den­lang vertieft er sich in Gefie­der­zeich­nung und Fell­mus­ter. In dieser Zeit entdeckt er die oppo­si­tio­nel­le Umwelt­be­we­gung in der DDR. Bald gilt er dort als Natur­schutz-Exper­te, weil er Fotos von selte­nen Tier­ar­ten und ebenso von den Umwelt­sün­den in den Braun­koh­le­re­vie­ren zeigen kann. Als er 1986 in Gera selbst eine Umwelt­grup­pe grün­det, wählt er unter dem Eindruck der Atom­ka­ta­stro­phe von Tscher­no­byl als Arbeits­schwer­punkt das Thema Uran­berg­bau. Er hegt den Verdacht, dass die Prak­ti­ken der »SDAG Wismut«, die in Sach­sen und Thürin­gen zahl­rei­che Uran­berg­wer­ke betreibt, die Umge­bung verstrah­len. Wie aber an die nöti­gen Infor­ma­tio­nen herankommen?
Einge­klebt in eine schein­bar fabrik­neue Film­do­se, erreicht Micha­el eine von Unter­stüt­zern in West­deutsch­land abfo­to­gra­fier­te Broschü­re über Uran­berg­bau­tech­ni­ken. Er ist Mitglied des Kreis­vor­stands der »Inter­es­sen­ge­mein­schaft Natur und Umwelt«, und so wird ihm Zutritt zur Gewäs­ser­auf­sicht in Gera gewährt. Dort, einsam in einem Hoch­si­cher­heits­trakt, sitzt ein über das Inter­es­se sicht­lich erfreu­ter Beam­ter, der ihm immer vertrau­li­cher davon erzählt, wo die radio­ak­ti­ve Suppe in die Flüsse läuft. Im Keller einer Berli­ner Pfarr­ge­mein­de stel­len Micha­el und seine Mitstrei­ter schließ­lich mit Hilfe einer Wachs­ma­tri­zen-Druck­ma­schi­ne aus den 1930er Jahren 1000 Exem­pla­re der Unter­grund­schrift »Pech­blen­de« her – eine umfas­sen­de Aufklä­rung über den Uran­skan­dal der DDR.

„Die Stasi hat von der Veröf­fent­li­chung erst aus der Frank­fur­ter Rund­schau erfah­ren“, erzählt Micha­el. „Nur weil das im Westen sofort publik wurde, kam ich nicht gleich ins Gefäng­nis. Aber die Stasi hat das ganze Arse­nal an Zerset­zungs­maß­nah­men aufge­fah­ren. Gott sei Dank kam bald darauf die Wende! Anders hätte ich nicht lange bestehen können.“ Micha­el gehört zu der Hand­voll DDR-Bürger, die als Mitglie­der des Bürger­ko­mi­tees zur Auflö­sung der Stasi als erste ihre Akte einse­hen dürfen. Damals wurde heftig disku­tiert, was mit den Akten­ber­gen zu tun sei. Verbren­nen? Einmau­ern? Sie allen Betrof­fe­nen zuschi­cken? Das sollte erst nach eini­gen Selbst­ver­su­chen entschie­den werden. „Erst musste ich über all die alber­nen Spitz­na­men lachen, die sie mir und meinen Freun­den gege­ben hatten“, erin­nert sich Micha­el an den ersten Blick in seine Akte. „Aber dann wurde es erns­ter, als ich begriff, dass hinter all den Behin­de­run­gen und Bedro­hun­gen, die ich erfah­ren hatte, ein Plan stand, den einige wenige Verant­wort­li­che entwor­fen hatten. Die Spit­zel waren dabei nur Werk­zeu­ge gewesen.“

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